Artikel aus "Oberhessische Presse vom 25.März 2023 von Björn Wisker"
MARBURG. Ein Klopfen, dann betritt ein großgewachsener Mann den Raum. Er trägt eine Jacke in Tarnfarben, in der Hand hält er einen Jutebeutel, aus dem einige Zettel heraus- schauen. Sind es Rechnungen, Quittungen, Belege? Klar ist: Der Mann, vielleicht Anfang 30, ist zu einem Gesprächster- min im Südviertel. Er hat einen Termin bei der Sozial- und Schuldnerberatung der Caritas. Er ist einer von vielen Marburgern, denen wegen der anhaltenden Inflation das Geld ausgeht. „Der Andrang ist gewaltig, immer mehr Menschen haben finanzielle Probleme“, sagt Maike Wach- tel, Verwaltungsleiterin der Caritas. Lebensmittel-Preise, Kosten für Energie und Tank- füllungen oder Tickets für den Weg zur Arbeit – viele Mar- burger bringen alltägliche Ausgaben „an oder über die Grenze des Machbaren“.
Pro Woche kommen mittlerweile zehn Menschen, zehn Neuanfragen in Marburgs einzig stadtteilübergreifender Schuldnerberatung an – und das sind nur jene, die schon tief drin im finanziellen Sumpf stecken, die Schulden haben und gar von Privatinsolvenz bedroht sind. Die Fallzahlen bei der Sozialberatung, die sich praktisch um die Problem-Vorstufe von Geldknappheit kümmert, sind laut Wachtel „um einiges höher“.
In diese Gruppe fallen jene Marburger, die mit der Inflation seit Monaten finanziell abschmelzen, ihre Rücklagen aufbrauchen, die private Altersvorsorge stoppen – Personen, die schleichend zu verarmen drohen. „Wir sehen hier jetzt Menschen aus der Mittel- schicht, ganz normale Arbeitnehmer, die nie daran dachten, dass sie mal ans Limit kommen würden“, sagt Wachtel.
Marburger bangen um Grundnahrungsmittel
Es seien mittlerweile ebenso berufstätige Ehepaare, bür-gerliche Familien wie auch Bürgergeld-Empfänger, dazu Studenten, Rentner, Migranten, Alleinerziehende. Und das aus allen Altersklassen. „Die, die immer schon wenig Geld hatten, trifft die Inflation natürlich noch härter. Die suchten und brauchten aber immer schon Hilfe, wenn auch jetzt vermehrt. Neu ist, dass jetzt immer mehr Leute kommen, deren Einkommen jahrelang gereicht hat und die sich jetzt plötzlich kaum noch Grundnahrungsmittel leisten können.“
Menschen suchen nach Zuschüssen
Längst stellten nicht mehr jene die Mehrheit der Finanzschwachen, die beim Konsum zugeschlagen haben oder in Raten-Fallen getappt, ein Stück weit selbst schuld an ihrer Situation sind. „Luxuskäufe, sich bei Ausgaben übernehmen – das sind nicht mehr die, die hierher kommen.“ Die Berater kommen seit Monaten nicht mehr hinterher, täglich ein halbes Dutzend Gespräche wegen Geld- mangels seien mittlerweile Normalität. Die Caritas hat mittlerweile sogar eine Warteliste für Beratungstermine, weil „der Zulauf nicht abreißt“.
Für die, die einen Termin bekommen haben, geht es ums Ausschöpfen aller möglichen Zuschüsse und staatlichen Leistungen wie etwa Wohngeld. „Es stehen ja mehr Menschen ergänzende Hilfen zu, als man glaubt“, sagt Wachtel. Die Stadt Marburg legt in dieser Woche eine Bestandsaufnahme und Bedarfsanalyse zur Sozial- und Schuldnerberatung im Stadtgebiet vor. Ergebnis: Die finanzielle Situation treibt tatsächlich immer mehr Menschen in die Beratungsstellen – vor allem, aber längst nicht mehr nur aus dem Niedrig- lohnsektor.
Vor der Corona-Pandemie seien die Fallzahlen der sozialen Träger wie BSF, AKSB, IKJG und eben Caritas demnach relativ konstant gewesen, Anstiege zwar sichtbar, aber eher konstant und leicht gewesen. Seit 2020 gebe es aber deutlich mehr Nachfrage. Selbst im Lockdownjahr 2021 stieg alleine bei der Bürgerinitiative für Soziale Fragen (BSF) am Oberen Richtsberg die Zahl der Klienten binnen eines Jahres um Dutzende – wohl auch wegen des Wegfalls vieler Einkommen durch Nebenjobs etwa in der Gastronomie. Zwischen 2020 und Ende 2022 habe es einen Nachfrage-Anstieg um 37 Prozent gegeben. Alleine im vergangenen Jahr, als die Inflation in die Höhe schoss, registrierte man nur für den Richtsberg bei der dortigen BSF 643 Beratungen. Kunden-Zulauf auch in Stadtallendorf Die Erfahrungen der Finanzexperten in Marburg decken sich mit denen, die in weniger wohlhabenden Städten gemacht werden. „Die Leute haben weniger Geld“, sagt etwa Christiane Pelken von der Schuldnerberatung des Vereins für Beratung und Therapie in Stadtallendorf. Arbeitnehmer und Selbstständige, die wegen der Inflation plötzlich in Geldnot kommen, sorgen demnach auch im Osten des Landkreises für spürbaren Zulauf.